Zentrum und Peripherie: Pirandello zwischen Sizilien, Italien und Europa

Symposium der Universität Mannheim und des Deutschen Pirandello-Zentrums e.V.
“Zentrum und Peripherie: Pirandello zwischen Sizilien, Italien und Europa”

Simposio dell’Università di Mannheim e dell’Istituto tedesco di studi pirandelliani
“Centro e periferia: Pirandello tra Sicilia, Italia ed Europa”

Italienische Kulturtage an der Universität Mannheim (21. – 22. Oktober 2004)

Wenn etwa 50 aus Sizilien stammende Mannheimer sich nach der Betrachtung des Films Catenaccio in Mannheim mit aus Sizilien angereisten Gästen darüber streiten, ob der Regisseur dieses Films, der in Mannheim geborene Mario Di Carlo, bei der Suche nach seinen sizilianischen Wurzeln ein adäquates Bild von Sizilien gezeigt habe, und sich dabei in die Haare kriegen, dann erlebt man in der Praxis hautnah die Probleme interkultureller Identitätsbildung. Was ist ein Sizilianer, wie ist Sizilien, aus der Heimat und aus der Fremde betrachtet, wie verhalten sich Deutsche zu Italienern, sind die in Deutschland lebenden Italiener der zweiten und dritten Generation Deutsche oder nicht, wie können sie ihre Identität definieren?

Solche und ähnliche Probleme der Identitätsbildung gehören zu den Themen, die der sizilianische Schriftsteller Luigi Pirandello (1867–1936) in seinen Werken vielfach behandelt hat. Diese Werke standen im Zentrum des internationalen Kolloquiums zum Thema “Zentrum und Peripherie. Pirandello zwischen Sizilien, Italien und Europa”, welches im Rahmen der vierten Settimana della lingua italiana nel mondo am 21. und 22. Oktober 2004 in der Aula der Universität Mannheim stattgefunden hat. Veranstalter war der Lehrstuhl Romanistik I der Universität Mannheim in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Pirandello-Zentrum e.V., finanziell großzügig unterstützt vom Italienischen Kulturinstitut Stuttgart, vom Rektorat der Universität Mannheim, vom Dekanat der Philosophischen Fakultät dieser Universität und vom Agente consolare d’Italia in Mannheim.An den beiden Tagen wurde von namhaften Pirandello-Forschern aus Deutschland, Österreich, Italien, Belgien und Luxemburg über Pirandellos Werk im Lichte neuerer Erkenntnisse und Methoden der Kulturwissenschaften diskutiert. Dabei ging es um die Frage, wie das Werk von Pirandello, der der bedeutendste italienischsprachige Autor des 20. Jahrhunderts war und 1934 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, als Produkt des Spannungsfeldes zwischen Pirandellos sizilianischer Heimat, der Groß- und Hauptstadt Rom und den Metropolen Westeuropas, insbesondere Berlin, wo der Autor länger gelebt hat, gedeutet werden kann. Untersucht wurden die Dezentrierung durch Reisen in Pirandellos Novellen vor dem Hintergrund des Verismus (Christine Ott, Marburg) und derZusammenhang zwischen Geschlechterrollen und Modernisierungserfahrung im Roman L’Esclusa, der in Sizilien angesiedelten Geschichte einer von ihrem Ehemann zu Unrecht verstoßenen Frau, die als Lehrerin dann eine gewisse Unabhängigkeit erreicht (Susanne Kleinert, Saarbrücken). Kai Nonnenmacher (Regensburg) suchte nach Spuren religiöser Praktiken in Pirandellos Werken, während Walter Geerts (Antwerpen/Rom) die Darstellung von Alterität in Pirandellos Novellen nachzeichnete. Pirandellos Nähe zur internationalen Avantgarde wurde von Michael Rössner (München) anhand des Bühnenexperiments La Sagra del signore della nave dargelegt. Weitere Vorträge beschäftigten sich mit dem Thema der Funktion des Wahnsinns in Pirandellos Bühnenstücken (Claudio Cicotti,Luxemburg), mit dem tragischen Bewußtsein angesichts der modernen Technik und der Mechanisierung, wie es sich in Pirandellos im Kinomilieu spielenden Roman Quaderni di Serafino Gubbio operatore manifestiert (Pasquale Guaragnella, Bari), und mit dem Zusammenhang zwischen der Infragestellung von Identitätskonstruktionen und interkulturellen Diskrepanzerfahrungen (Thomas Klinkert, Mannheim). Das Spannungsverhältnis zwischen Pirandellos sizilianischen Wurzeln und seiner europäischen Wirksamkeit wurde in den beiden abschließenden Vorträgen deutlich: Monika Schmitz-Emans (Bochum) zeigte Affinitäten zwischen Pirandello, Pessoa und Tabucchi auf, während Johanna Borek (Wien) Pirandellos Werk in eine Reihe von poetologischen Selbstreflexionen sizilianischer Autoren (u.a. Sciascia, Consolo) stellte.

Es zeigte sich bei diesen Vorträgen, daß die bei Pirandello immer wieder vorkommenden Erfahrungen der Fremdheit, der Selbstinfragestellung, der Identitätsauflösung, aber auch die damit zusammenhängende selbstreflexive Darstellungsweise (von Pirandello als “humoristisch” bezeichnet und theoretisch ausgeführt in seiner Schrift L’umorismo) vielleicht erst richtig verständlich werden, wenn man sie vor dem Horizont einer Modernisierungserfahrung betrachtet, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nach der Herstellung der nationalen Einheit Italiens zu einer erhöhten Mobilität, zu einer stärkeren Präsenz von Alterität und somit zu Diskrepanzerfahrungen in sich auflösenden traditionellen Gesellschaftssystemen wie dem sizilianischen führte. Insofern ist Pirandello ein exemplarischer Autor der Moderne. Er stellt in seinen Werken immer wieder Elemente der ihm vertrauten archaischen Welt gegen Elemente der ihm nicht weniger vertrauten modernen Gesellschaft und entwickelt aus dieser Gegenüberstellung philosophische Reflexionen und ästhetische Innovationen. Die von ihm behandelten Probleme lassen sich, wie die Erfahrung des Mannheimer Kolloquiums gezeigt hat, auch auf die Gegenwart übertragen. Man versteht sicherlich die Identitätsprobleme von Migranten besser, wenn man sie aus einer pirandellianischen Perspektive betrachtet.

Umrahmt wurde die Veranstaltung von einer Ausstellung von Photographien, die der Künstler Salvatore Scirè bei einer Reise durch Sizilien gemacht hat, und von zwei Konzerten der Brüder Cannavò, eines Geigers und eines Pianisten, die traditionelle sizilianische Melodien, aber auch Stücke von Astor Piazzolla und anderen Komponisten interpretierten. Die Kulturtage richteten sich sowohl an ein universitäres als auch an ein nicht-universitäres Publikum. Daher ist die zahlreiche Präsenz insbesondere der aus Italien stammenden Mannheimer besonders hervorzuheben. Es zeigte sich, daß die kulturelle Selbstreflexion auch und gerade in Zeiten starker Ökonomisierung unverzichtbar ist. Eine solche Reflexion zu ermöglichen, ist eine der zentralen Aufgaben der Kultur- und Geisteswissenschaften.

Thomas Klinkert, im November 2004